Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir die gestrige Abmoderation zum Tag der Deutschen Einheit von Alex Urban. Alex Urban leitet die Aktionsgruppe #ichbinhier.
Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir die gestrige Abmoderation zum Tag der Deutschen Einheit von Alex Urban. Alex Urban leitet die Aktionsgruppe #ichbinhier.
Heute ist der „Tag der deutschen Einheit“.
Es ist das dritte Mal in Folge, dass ich mir das Recht herausnehme, am 03. Oktober die Abmoderation zu schreiben. 2017 habe ich von einem Besuch in einer Zuchthaus-Gedenkstätte berichtet. Im letzten Jahr ging es um das dumme Narrativ der „DDR 2.0“.
Ich habe in den letzten drei Jahren gemerkt, wie sehr mich das Thema der Nachwendekinder beschäftigt. Wie sehr vielen Menschen in der ehemaligen DDR Unrecht getan wird, wenn man die neuen Bundesländer einfach als braunes Loch abtut. Mich interessieren die Geschichten derjenigen, die mit mir, aber in anderen Städten, groß geworden sind. Und ich wünsche mir, dass die DDR nicht wie eine Komödie wahrgenommen wird. Nicht wie in „Sonnenallee“ oder in „Goodbye Lenin.“ Die DDR war kein Comic. Sie hat Menschen für immer gebrochen. Sie hat Menschen getötet. Ein Staat mitten in Europa hat vor 30 Jahren Menschen getötet, die nicht in diesem Staat leben wollten. Die nicht seiner Meinung waren.
Ich sehe Chemnitz und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit euch?Daniel Schulz aus: Deutschlandradio Kultur, Das Feature, Wir waren wie Brüder.
Es gibt zur Zeit eine Menge Bücher, die sowohl von Wende- und Nachwendekindern als auch von deren Elterngeneration mit dem Ziel geschrieben wurden, die persönlichen Geschichten und damit die bis heute andauernde gesellschaftliche Entwicklung nachzuerzählen.
Das Leben in der DDR war genauso geprägt von Schicksalen wie das Leben in der BRD. Natürlich. Nur heimlicher, verschwiegener. Ich bin aber zu jung, um dazu etwas sagen zu können. Ich bin aber nicht zu jung, um meine Jugendzeit zu beschreiben, und vor allem bin ich nicht zu jung, um einerseits die Menschen im Osten zu erklären, aber andererseits auch dafür zu verachten, Rechtsextreme und Faschisten zu wählen.
Zur Zeit der Wende ging ich in die 4. oder 5. Klasse. Ich begriff nicht, was passiert, spürte aber, dass es was Besonderes gewesen sein muss. Ich war auf Demos dabei. Keine Ahnung, worum es da ging. Im Nachhinein: Stellt euch vor, die Führung der Polizei oder des Staates hätten durchgegriffen. Nicht auszumalen, was das für eine Tragödie hätte werden können. In dieser Sekunde waren sie wenigstens einmal Helden. Ob aus Hilflosigkeit oder aus Menschlichkeit.
Gegenüber meiner Schule, die dann Grundschule hieß, wurde aus der „Kaufhalle“ ein „Supermarkt“. „Plus“ hieß der damals.
Wir haben uns da Fanta und Cola in Dosen gekauft. Die Regale wurden voller. Es gab nun die Schokolade zu kaufen, die sonst bei meinem Opa immer in Paketen ankam. Er hatte Geschwister im Westen. Andere Süßigkeiten verschwanden dafür für Jahre aus dem Sortiment. Was ich nicht begriffen habe, war, dass ich nun die Ware auf ein Kassenband legen und selbst wieder in den Wagen packen musste. Früher standen sich immer zwei Einkaufswagen gegenüber und die Kassiererin packte alles von einem in den anderen.
Ich kam dann auf das Gymnasium. Und an meinem ersten Schultag sah ich zwei ältere Mitschüler. Aktenkoffer, grüne Bomberjacke, hochgekrempelte Jeans, Springerstiefel, und ein rotes Tuch war da festgeknotet, wo der Gürtel durchgezogen wird. Das war 1992. Woher kannten die das? Und ganz ehrlich: Sie machten mir Angst.
Es gab auch immer wieder Gerüchte, dass Neonazi-Skinheadbanden in Schulen kamen und Schüler im Unterricht verprügelten. Ich habe oft aus dem Fenster Ausschau gehalten. Aber es blieb bei Gerüchten.
Keine Gerüchte hingegen waren die Übergriffe an Baggerseen oder in Wohngebieten oder in Jugendclubs. Baseballschläger gehörten zum Inventar einiger Autos. Aber ein Aufschrei in der Stadt? Fehlanzeige. Das waren Prügeleien. Neonazis gegen Gymnasiasten. Neonazis gegen Linke. Neonazis gegen Hip-Hopper. Was man eben als Jugendlicher so macht.
Wo kamen die Neo-Nazis überhaupt her? Gute Frage. In der DDR gab es offiziell keine. Die waren im Westen. Eventuell hatte man da etwas verpasst. Übersehen. Und wurde dann überrascht. Aber ein richtiger Aufschrei der Zivilgesellschaft? Eine Lichterkette mal hier, mal dort. Gefährlich wurde es hingegen für Initiativen, die gegen Neonazis ankämpften. Aber so eine richtige Unterstützung erinnere ich nicht.
Auch als ich älter wurde: Ja, Neonazis waren da. Man lebte halt mit ihnen, kümmerte sich aber mehr um das eigene Leben. Niemand von den Älteren, von der Elterngeneration, würde sich zu den Neonazis zugehörig fühlen. Aber ja, Ausländer, die kriminell sind, haben hier nichts verloren. Müssen sich benehmen. So wie wir auch. Aber rechtsextrem? Nein, wir nicht. Das sind die mit den Springerstiefeln und mit den Bomberjacken. Wir haben ganz andere Sorgen: Arbeit, Zukunft. Und Vergangenheit. Achja, und Kinder. Was machen die eigentlich gerade?
Vermutlich hat fast jeder Jugendliche mal nach der Wende Nazimusik auf Kassetten gehört. Das war verboten. Das war auf dem Index. Und vor allem, hatte man zuvor noch niemals so etwas Abstoßendes gehört.
Auf dem Gymnasium gab es später kaum noch Neonazis, wir waren eher links, hatten große armeeähnliche Rucksäcke, dunkelblaue bzw. schwarze Tücher an der Hose. Hörten Nirvana, Slime, …But Alive, Tocotronic, Gundermann. Viel Gundermann. Auch die Onkelz. Aber nicht lange.
Die Skins waren ja aber noch da. Die waren nie weg. Ich hatte oft einfach Glück, andere hatten das nicht. Das Bewusstsein dafür, dass wir ein Problem mit diesen Rechtsextremen hatten, war nicht so sehr in der Öffentlichkeit ausgeprägt. Nazis sind die anderen. Diejenigen, die Ausländer jagen und verprügeln und „Ausländer raus“ rufen. Judenwitze oder N***er-Witze sind ja hingegen nur Witze. „Ich bin doch deswegen nicht rechtsextrem!“
Das Verarbeiten des Erlebten, der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Zeit nach der DDR-Diktatur, fängt erst jetzt langsam an. Erst jetzt nach den Erfolgen der AfD im Osten fragen sich viele Menschen (und erst recht im Osten), was da in den letzten Jahren passiert ist. Die Antworten sind so vielfältig und vermutlich alle schon oft irgendwo in irgendwelchen Artikeln oder Kommentaren erläutert worden.
Was aber bisher fehlte: Persönliches. Keine allgemeinen Analysen über geschlossene Betriebe und übergestülpte Marktwirtschaft und „überhebliche Wessis“ und „naive Ossis“. Die Geschichten von einzelnen. Um Ballast loszuwerden und wieder freier atmen zu können.
Ich weiß, das Thema der DDR ist an einem Tag wie heute ziemlich einseitig und in meinem Text auch sehr persönlich. Aber ich wünsche mir, dass wir es schaffen, ohne „Mauer wieder aufbauen!“ zu rufen, miteinander noch mehr und vor allem differenzierter ins Gespräch zu kommen. Den Osten auf den „braunen Sumpf“ zu reduzieren, wird nicht helfen.
Alex für #ichbinhier
PS: Das Foto stammt aus der arte-Doku „This ain’t California – Rollbrettfahrer in der DDR“. Was für eine schöne Dokumentation, die zeigt, es gab auch in der DDR eine sympathische Subkultur!
Foto: farbfilm verleih
Der Text ist eine Replik auf Artikel (TAZ) und Feature (Deutschlandradio Kultur). s.u.
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