Digitaler Hass gegen die Demokratie

Mai 7, 2019/0/0

Einleitung

Hate Speech und koordinierte Online-Attacken sind längst und leider keine Seltenheit mehr, immer häufiger scheinen Menschen und Initiativen, die sich politisch engagieren oder für demokratische Werte öffentlich einstehen, Zielscheibe von Hass und Menschenfeindlichkeit zu sein. Aber ist es echte Wut, die Politiker*innen und NGOs im Netz mehrheitlich aus der rechten Szene abbekommen? Oder handelt es sich eher um gezielte Kampagnen, die vor allem eines erreichen wollen: Engagierte einzuschüchtern? Haben wir es mit einer breiten gesellschaftlichen Bewegung zu tun oder doch vielmehr mit einer lauten Minderheit? Was macht der Hass mit den Betroffenen, wie können wir ihnen helfen?

Nachfolgend können wir bestätigen: Der Hass im Netz ist organisiert – von einer kleinen Minderheit. Die involvierten Accounts sind in der rechtsextremen Szene aktiv, unter anderem auch auf den Seiten der Identitären Bewegung. Und was nun?

Beteiligte Organisationen

Bei der Analyse von Shitstorms haben der Verein ichbinhier e.V. gemeinsam mit der Facebook-Aktionsgruppe #ichbinhier und die Initiative No Hate Speech Movement zusammengearbeitet: Während der Datenanalyst Philip Kreißel (ichbinhier e.V.) die technischen Analysen der koordinierten Attacken und beteiligten Accounts durchgeführt hat, hat das Team des No Hate Speech Movements in qualitativen Gesprächen mit den Betroffenen in Erfahrung gebracht, wie sehr der Hass das eigene Wohlbefinden beeinflusst hat – und was ihnen im Umgang geholfen hat.

ichbinhier e.V.

Der ichbinhier e.V. möchte die Nutzer*innen Sozialer Netzwerke, Medienvertreter*innen und politische Entscheidungsträger*innen für das Thema Hass im Netz sensibilisieren. Der Verein klärt über die Ursachen von Hassrede, ihre Verbreitung und ihre Auswirkungen auf und unterstützt Menschen und Institutionen in allen Bereichen der Gesellschaft darin, sich gegen digitale Angriffe zu wappnen bzw. sich selbst für eine bessere Online-Diskussionskultur einzubringen. Akteur*innen sollen darin bestärkt werden, in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern gegen Hate Speech vorzugehen.
Aktionsfelder des ichbinhier e.V. sind Bildung und Weiterbildung im Bereich der Gegenrede durch Workshops, die Beratung von Vertreter*innen aus Medien, Politik und dem Bildungsbereich, die Teilnahme an Konferenzen, die Vernetzung mit Akteur*innen und Institutionen sowie das Betreiben und Unterstützen von Forschungsprojekten.

#ichbinhier
Die Facebook-Aktionsgruppe #ichbinhier ist die größte Counterspeech-Initiative Deutschlands. Unzählige Mitglieder schreiben täglich sachliche und menschenfreundliche Kommentare, um dem oft einseitigen Meinungsbild in den Kommentarspalten reichweitenstarker Medien auf Facebook entgegenzuwirken. Somit zeigen sie Haltung und setzen zugleich ein Statement für Demokratie, Toleranz, Vernunft und eine liberale, weltoffene Gesellschaft

No Hate Speech Movement

Das No Hate Speech Movement ist eine Initiative des Europarats, die 2012 als Reaktion auf die Attacken in Norwegen ins Leben gerufen wurde. Ziel der internationalen Bewegung war es, insbesondere junge Menschen zu mobilisieren, um sich für Menschenrechte im digitalen Raum stark zu machen. Seit 2016 wird das No Hate Speech Movement in Deutschland von dem Neue deutsche Medienmacher e.V. auf nationaler Ebene umgesetzt: Ging es anfangs vor allem darum, Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen und zu sensibilisieren, werden seit 2017 Instrumente und Materialien für Medienschaffende entwickelt, um diese beim Umgang mit Hass im Netz zu unterstützen: Neben einem Helpdesk, der Strategien der Hater*innen sowie effektive Gegenredestrategien vorstellt, gibt es außerdem einen praktikablen Leitfaden sowie Train-the-Trainer-Seminare.
Das No Hate Speech Movement ist in Deutschland die zentrale Anlaufstelle für das Thema Hass im Netz.

Schwerpunkt

Wir, das heißt sowohl ichbinhier e.V. als auch das No Hate Speech Movement, wollen gegen alle Art von Hasskriminalität und Hate Speech vorgehen. Dazu müssen wir nicht nur die Dynamik des Hasses im Netz verstehen, sondern vor allem auch in Erfahrung bringen wie Betroffenen geholfen werden kann.

2018 haben wir deshalb versucht, jede*n zu kontaktieren, der*die von einem Shitstorm betroffen war. Insgesamt konnten wir 18 solcher Kampagnen identifizieren. All diese Shitstorms sind durch eine starke Beteiligung der rechten Szene charakterisiert. Dort liegt nun auch der Schwerpunkt unserer Arbeit.

Wir haben die Mitwirkenden aller Shitstorms und ihre Querverbindungen analysiert. Außerdem haben wir allen Betroffenen Fragebögen gesendet und auch qualitative Interviews mit ihnen geführt. Die Angegriffenen gehören unterschiedlichen Organisationen an: von Parteien bis zu NGOs, von der CDU bis zu den Grünen. Sie repräsentieren die deutsche Zivilgesellschaft tatsächlich in ihrer ganzen Vielfalt (im Gegensatz zu der Minderheit, die in koordinierte Attacken involviert sind).

Ergebnis unserer Auswertungen ist ein Überblick über Hasskampagnen gegen die Demokratie.

Die Perspektive der Angegriffenen

So wenig vielfältig die Richtung sein mag, aus der der Hass kommt, so vielfältig sind die betroffenen Personen: Initiativen und zivilgesellschaftliche Organisationen wie der Arbeiter-Samariter-Bund,Personen des öffentlichen Interesses und Politiker*innen wie Renate Künast und Sawsan Chebli, Behörden und lokalen Institutionen wie der AStA der Universität Köln – sie alle wurden zur Zielscheibe koordinierter Hassattacken aus der rechten Szene. 12 Betroffene von 18 ausgewerteten Kampagnen haben sich zu unseren Fragen geäußert.

Wie schwerwiegend?

Die Betroffenen berichten fast einhellig von Bedrohungen und Beleidigungen. 50% Befragten berichten davon, dass sie im Verlauf der Kampagne mit Vergewaltigungswünschen konfrontiert waren. 60% der Befragten erhielten Todesdrohungen- bzw. -wünsche. In einem Fall waren die Morddrohungen so konkret, dass Polizeischutz vor Ort einberufen wurde.

“(…) Wir hatten hier ja wirklich die Polizei vor Ort, die patrouilliert hat. Das hatte schon Auswirkungen in ziemlicher Tiefe, also schon in das reale Wahrnehmen hier vor Ort, an meinem Arbeitsplatz, ja?”(anonym)

Einige der Betroffenen möchten aus Angst vor weiteren Attacken anonym bleiben.

Was hilft Betroffenen?

Was alle Betroffenen außerdem gemeinsam haben, ist ihr Blick auf den Shitstorm: Sowohl im Fragebogen als auch in persönlichen Gesprächen wurde mehrfach betont, wie wichtig der Rückhalt aus der Community und dem eigenen Umfeld war und ist. Es braucht positive und sachliche Kommentare, es braucht Solidarität, es braucht Zusammenhalt. Auch die Unterstützung über die eigene Community hinaus hat vielen geholfen:

“ (…) Aber, der andere Punkt ist ja sowas wie #ichbinhier oder einzelne Leute, die unterstützen oder was machen, (die) sind schon eine Wohltat.” (Renate Künast)

Darüber hinaus braucht es aber natürlich noch viel mehr: mehr Unterstützung durch die Zivilgesellschaft, mehr Menschen, die sich auch im Netz für Menschenrechte und Demokratie einsetzen. Die Mehrheit der Betroffenen kritisiert, dass die Meldemöglichkeiten auf Facebook nicht ausreichend sind beziehungsweise mit Facebooks Moderationstools kaum etwas erreicht werden kann. Zudem fehlen Beratungsmöglichkeiten für Betroffene, sowohl im beruflichen Kontext als auch privat – es braucht mehr Sensibilisierung für das Problem: in der Gesellschaft, bei Arbeitgeber*innen, der Polizei und der Politik.

“ (…) Eigentlich braucht so ein Team, wenn so ein richtig großer Shitstorm da ist, eine psychologische Betreuung, oder eher vielleicht nicht psychologische, sondern eher eine Supervisions-Möglichkeit.” (Anonym)

Was können also wir alle tun, um von Hate Speech Betroffene im Netz zu unterstützen? Was hilft den Menschen, die mitten in einer koordinierten Hasskampagne stecken? Wir. Wir alle können helfen, den Mund aufmachen, in die Tasten hauen und gegenreden. In Kommentarspalten, in privaten Nachrichten, über Community-Grenzen hinweg. Mit Betroffenen sprechen und ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Plattformen, Strafverfolgung, Politik und Arbeitgeber*innen auffordern, sich einzusetzen für Austausch, Dialoge und Miteinander. Betroffenen Dinge an die Hand geben, die tatsächlich etwas bringen – und nicht einfach nur den Satz, dass nur eine Minderheit Hass verbreitet.  

Anzeigen

“In Peak Zeiten [waren] es glaube ich 20 –  30 Anzeigen [pro Woche], die ich stelle.” (anonym)

Viele Menschen, die von solchen Kampagnen betroffen sind, erstatten mittlerweile Anzeige, wenn das möglich ist. Sie berichten, dass Anzeigen oft im Sand verlaufen, aber es kam auch zu Verurteilungen.

“Musste Jemand von den Identitären eigentlich vor Gericht erscheinen. Der wurde aber in seiner Abwesenheit zu 3.700 € oder so Strafe verurteilt.” (Anonym)

“Polizei nicht hilfreich. Kaum Täter ermittelbar.” (Anonym)

Die Täter*innen, die Mitläufer*innen

Wer sind die Menschen hinter den Profilen und warum beteiligen sie sich an Shitstorms?

Dieser Frage sind wir in einer groß angelegten quantitativen Analyse nachgegangen. Wir haben dafür bei jedem Shitstorm die beteiligten Accounts heruntergeladen und pseudonymisiert gespeichert. Pseudonymisiert bedeutet, dass beteiligte Personen etwa so aussehen: „87592f8abbaf2bdb6ebf5e7e5d41d31d“.

Auch Hater*innen haben ein Recht auf Privatsphäre. Wichtig ist: Ausschließlich öffentlich einsehbare Daten wurden ausgewertet. Wir haben alle Accounts eingeschlossen, die auf Shitstorm-Kommentare mit „Gefällt mir“ reagiert haben. Im Zweifel waren Shitstorm-Kommentare solche, die keinerlei Likes von #ichbinhier-Mitgliedern erhalten haben. Dabei handelt es sich natürlich nicht nur um Hate Speech. Wir überschätzen damit die Zahl der Hass-Accounts, die laute Minderheit ist also eigentlich noch kleiner.

Hochaktive Accounts

Es fiel schnell auf, dass viele Accounts sich nicht nur an einer, sondern an mehreren Kampagnen beteiligt haben. Besonders solche Accounts, die innerhalb einer einzelnen Kampagne extrem aktiv waren, beteiligten sich auch an anderen Kampagnen. Das führt dazu, dass über alle analysierten Kampagnen hinweg nur 2000 Accounts für die Hälfte aller Interaktionen verantwortlich waren. Das sind nur 5% aller beteiligten Accounts. Interessanterweise sind das die gleichen Verhältnisse, die auch bei unserer Analyse von Hasskommentaren unter Medienseiten auftauchen (https://www.isdglobal.org/wp-content/uploads/2018/07/ISD_Ich_Bin_Hier_2.pdf).

Die Grafik zeigt die enge Vernetzung der Kampagnen untereinander und mit Sympathisanten von Organisationen der Neuen Rechten, die wiederum oft die AfD unterstützen.

Ein Beispiel: Bei einer Kampagne gegen Malu Dreyer kamen fast 75% der Interaktionen von Accounts, die sich auch an mindestens einem anderen Shitstorm aus unserem Sample beteiligt hatten. Kleinere Übereinstimmungen gibt es bei der Kampagne gegen den parteilosen Lokalpolitiker Sebastian Mueller: Hier waren nur 40% der Accounts bereits in Erscheinung getreten. Grund dafür war wahrscheinlich, dass sein Facebook-Post zu einem Fall von Ausländerkriminalität in Freiburg von einem rechten Blog in einem mit allerhand Falschbehauptungen gespickten Artikel geteilt wurde und dadurch vielen User*innen angezeigt wurde.

Auch innerhalb der Kampagnen waren einige Accounts extrem aktiv und versuchten, so viele Kommentare wie möglich zu liken. Damit soll der Eindruck erweckt werden, dass viele Menschen sehr wütend sind. In der Tat handelt es sich aber nur um wenige Einzelpersonen, die einfach sehr viel Zeit und Energie in den Shitstorm investierten. Die Kampagnen wirken durch solche Maßnahmen sehr viel größer und bedrohlicher als sie es in Wirklichkeit sind.

Rechtsextreme Accounts

Die Ideologie, die den Attentäter von Christchurch inspirierte, scheint auch unter den Teilnehmer*innen von Hasskampagnen eine große Beliebtheit zu finden. Viele hatten in der Vergangenheit Beiträge der Identitären Bewegung mit „Gefällt mir“ markiert. Ihre Seite wurde von Facebook mittlerweile wegen wiederholter Verstöße gegen die Gemeinschaftsstandards gelöscht, die IB wird von Facebook als sogenannte „Hate-Org“ eingestuft. Der Verfassungsschutz warnt vor der Gruppe, in Österreich gibt es selbst unter schwarz-blauer Regierung regelmäßig Hausdurchsuchungen. Unter den 2000 aktivsten „Hater*innen“ gab es bei mindestens jedem fünften Account Übereinstimmungen mit den Fans identitären Contents. Die verwendete Methodik dürfte den Anteil identitärer Accounts deutlich unterschätzen, die realen Zahlen liegen vermutlich viel höher. Ein Grund dafür ist, dass viele der Accounts im Verlauf des letzten Jahres erstellt worden sind und damit erst, nachdem die Seiten der IB von Facebook gelöscht worden sind;eine Zuordnung war daher nicht mehr möglich.

Generell lässt sich sagen: Je aktiver der Account, desto extremer seine politische Ideologie. AfD-Sympathisant*innen wurden nicht so stark mobilisiert wie IB-Sympathisant*innen.

Dies trifft nicht nur auf Facebook zu. Eine zusätzliche Analyse eines Shitstorms auf Twitter gegen die Sprecherin von #FridaysForFuture Luisa Neubauer zeigte: Auch hier kam ein Drittel der Interaktionen von Accounts, die in der Vergangenheit Inhalte der IB retweetet hatten. Nur 200 Accounts waren für die Hälfte der Interaktionen verantwortlich.

Viele Kampagnen werden in geschlossenen rechtsextremen Facebook-Gruppen gestartet, in denen Verschwörungstheorien, Hass auf Minderheiten und Relativierung von Gewalt an der Tagesordnung stehen. Diese Gruppen bilden den Nährboden für Morddrohungen und öffentliche Hate Speech.

Strategische Kampagnen

Bei der inhaltlichen Auswertung der Kampagnen fällt auf, dass oft die selben “Talking Points” von den Teilnehmern an der Kampagne wiederholt werden. In rechten Gruppen ist es üblich, vor Shitstorms Angriffspunkte und Strategien abzusprechen.

Die Strategien zeichnen sich durch großen Opportunismus aus. Prinzipien oder Werte werden dabei als Waffen ins Feld geführt, nicht weil man notwendigerweise daran glaubt. So heißt es in einem “Handbuch für Trolle” zum Beispiel:

Schlage Deine Gegner mit ihren eigenen Waffen
Die größte Angst der systemtreuen Lakaien ist es, des Rassismus verdächtigt zu werden. Setze großzügig die Nazikeule ein und werf ihnen Rassismus und Antisemitismus vor. Shoppe ihre Gesichter auf Bilder aus dem dritten Reich.

In rechten Gruppen wird auch regelmäßig geplant, besonders linke Forderungen zu formulieren, um diese lächerlich erscheinen zu lassen:

Natürlich entspricht das nicht meiner Meinung, aber indem man sie einfach mit Ihren Ansichten noch um zwei Level überdreht, triggert man die richtig.

Der*die Gegner*in wird dabei oft nicht angegriffen, weil er*sie einen gesellschaftlichen Fehler begangen hat, sondern weil er einer konstruierten Feind-Gruppe angehört:

Ein gutes Beispiel dafür ist die Kampagne gegen den AStA der Uni Köln. Dieser hatte sich gegen Thor-Steinar-Kleidung von Personal auf dem Campus ausgesprochen. Daraufhin hagelte es Hasskommentare. Das Wort „Thor Steinar“ wird allerdings nur in knapp 3% der Kommentare überhaupt verwendet und Kommentare, die Thor Steinar erwähnen, vereinen nur knapp 2% der Likes auf sich, also auch eine unterdurchschnittliche Zahl. Die meisten Kommentare zielen darauf ab, den AStA als eine Gruppe „fauler“, „intoleranter“ und „lächerlicher“ „Linksextremer“ zu verunglimpfen, nicht auf das Verbot von Thor Steinar.

Die Betreiber solcher Kampagnen scheinen selbst keine Prinzipien zu haben, sie führen Prinzipien lediglich ins Feld, um einen opportunistischen Vorteil daraus zu ziehen. Sie identifizieren sich anscheinend vor allem über ihre Feindgruppen (“die Eliten” – aka die deutsche Zivilgesellschaft). Dies wird in Rückmeldungen der Betroffenen bestätigt:

“Eine echter Dialog ist meistens völlig unmöglich: Es geht um bloßen Hass. Es gibt keine gemeinsame Kommunikationsgrundlage.” (anonym)

Gegenmaßnahmen

Hatecontrol

80% der befragten Ziele von Hasskampagnen empfanden die Facebooks Bordmittel für Moderation als nicht ausreichend, um mit dem Hass fertig zu werden.

Daher haben wir mit Unterstützung von “das Nettz” “Hatecontrol”entwickelt.

Das Online-Tool ermöglicht Menschen, die regelmäßig Ziel von Hasskampagnen werden, ihre Kommentarspalten temporär zu schließen. Dafür wird einfach in einem festgelegten Zeitraum jeder neue Kommentar nach wenigen Sekunden automatisiert gelöscht.

Laufende Hasskampagnen können so mit einem Knopfdruck beendet werden, Redaktionen besonders kleinerer NGOs können Pausen einlegen, z.B. um nachts im Wissen zu schlafen, dass der Shitstorm nicht weitergeht. Damit verhindern wir Selbstzensur und letztlich die Vertreibung der deutschen Zivilgesellschaft von der Plattform Facebook. In Abwägung aller Faktoren fördert Hatecontrol dadurch Meinungsfreiheit: Erstens können Meinungen weiterhin auf anderen Seiten gepostet werden (beispielsweise als öffentlicher Facebook Status), Zweitens werden vom Tool alle neuen Kommentare verunmöglicht, unabhängig von der politischen Ausrichtung. Und letztlich verhindert es Selbstzensur und die “Schere im Kopf” beim Posten von Content in der deutschen Zivilgesellschaft.

Wir rufen Facebook dazu auf, das Feature von Hatecontrol zu übernehmen und es Seitenbetreibern standardmäig zu erlauben, ihre Kommentarspalten zu schließen, ähnlich wie dies in Gruppen bereits möglich ist. Dies ist auch im Eigeninteresse von Facebook, wenn die Plattform weiterhin von gesellschaftlichen Organisationen für Kampagnen genutzt werden soll. “Verbindungen um jeden Preis” herzustellen, sollte im Geschäftsmodell von Facebook eigentlich schon längst der Vergangenheit angehören. In vielen Ländern der Welt sind Hasskampagnen nicht nur aufgrund mangelnder staatlicher Unterstützung für die Zivilgesellschaft deutlich schwerwiegender, als wir uns das in Deutschland vorstellen können. Hasskampagnen und gezieltes Trolling werden in autoritären Staaten sogar von staatlicher Seite unterstützt oder aktiv betrieben. Facebook, aber auch andere Social-Media-Anbieter stehen hier in globaler Verantwortung; weiteres Nicht-Handeln kann die globale Zivilgesellschaft gerade in verwundbaren Staaten schwächen.

Hatecontrol steht kostenlos jede*m zur Verfügung, unabhängig von der politischen Ausrichtung. Aktuell ist es in einer erweiterten Beta-Phase. Interessent*innen können sich unter www.hatecontrol.ichbinhier.eu melden.

Hasskampagnen und die Medien

Kann man diese Kampagnen überhaupt noch “Shitstorm” nennen? Unsere Schlussfolgerung aus diesen Analysen ist: Nein. Es handelt sich hier um koordinierte Hasskampagnen. Unsere Analysen zeigen, dass nur eine kleine Zahl hochaktiver und oft rechtsextremer User*innen sich an den Kampagnen beteiligt und Personen und Organisationen angreift, die als Feindgruppe wahrgenommen wird. Das ist etwas grundsätzlich anderes, als wenn z.B. ein parteiübergreifender Shitstorm Amazon wegen schlechter Arbeitsbedingungen kritisiert.

Viele Medien greifen die Kampagnen trotz signifikanter rechtsextremer Beteiligung und Ursprünge auf. In den Medien werden ohne zu hinterfragen Narrative und Hashtags aus den Shitstorms übernommen. Die oft zu signifikanten Teilen rechtsextremen Teilnehmer*innen werden als “Kritiker*innen” verharmlost. Von den Drohungen und Vergewaltigungswünschen gegen die Ziele der Kampagnen liest man dagegen seltener, noch weniger kommen Betroffene selbst zu Wort.

Greifen reichweitenstarke Zeitungen wie die BILD die Shitstorms auf, werden sie dadurch zeitlich verlängert und rechtsextreme Narrative werden in die Mitte der Gesellschaft getragen und sagbar gemacht. Dies führt auch zu messbaren Verschiebungen beim Publikum. So erhält der BILD-Chef (blau) seit 2018 deutlich mehr Retweets von Accounts, die zuvor Inhalte der Identitären Bewegung retweetet hatten. Im Vergleich dazu erhält der WELT-Chef deutlich weniger solche Retweets.

Die Twitter API ist auf die letzten 3200 Tweets und Retweets beschränkt, Ulf Poschardt retweetet sehr viel, daher geht die Auswertung seiner Daten nur bis zum November 2018 zurück.

Was braucht es also auf Seiten der Medien? Mehr sprachliche Sensibilität, kritisches Hinterfragen der Ursprünge und eine entsprechende Einordnung durch Moderation.

Digitale Zivilcourage

Die “Unterstützung von #ichbinhier” wurde von der Mehrheit der Betroffenen als wichtigste Hilfe genannt. Gegenrede vermittelt sowohl dem Ziel einer Kampagne als auch ihren Tätern, dass Hass und Hetze nicht gesellschaftlich akzeptiert sind. Jede*r Bürger*in kann aktiv zu einer besseren Diskussionskultur beitragen, indem sie*er in solchen Situationen digitale Zivilcourage zeigt. In der Facebook-Gruppe “#ichbinhier” schließen sich überparteilich Bürger*innen zusammen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben gemeinsam gegen Online-Hass vorzugehen.

“(…) wir brauchen noch viel, viel mehr Menschen, die ihre Stimme heben in den sozialen Medien, wir müssen uns noch viel, viel besser organisieren als Gegenstimme zu den Hatern” (Sawsan Chebli)

“(…) wir brauchen noch viel, viel mehr Menschen, die ihre Stimme heben in den sozialen Medien, wir müssen uns noch viel, viel besser organisieren als Gegenstimme zu den Hatern” (Sawsan Chebli)

Schluss

Mit der Auswahl ihrer Ziele zeigen die Organisatoren von Hasskampagnen, wie weit im gesellschaftlichen Abseits sie stehen. Sie greifen Politiker*innen von CDU bis zu den Grünen an und attackieren mehrere namhafte Organisationen der deutschen Zivilgesellschaft. „Patriotismus“ ist in diesem Zusammenhang ein leeres Wort. Es scheint vielmehr so, als würden die selbsternannten Patriot*innen in Deutschlands Demokratie, deutschen Politiker*innenn und deutscher Zivilgesellschaft ihre Gegner*innen sehen. Wer auf Morddrohungen und Gewaltwünsche setzt, hat in gesellschaftlichen Diskursen keinen Platz. Das gilt im Übrigen für alle politischen und gesellschaftlichen Strömungen: Diskurs muss auf Meinungsfreiheit und dem Austausch von Sachargumenten zwischen möglichst vielen unterschiedlichen Gruppen und auf dem Boden unseres Grundgesetzes beruhen und nicht auf der Zerstörung des Diskurses.

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